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Wolfskins Tagebuch Teil 4

11./12.04.2016  Tag 27+28

Montag - neue Woche, neue Möglichkeiten. Nachdem der Sonntag so fänomenal erfolgreich gelaufen ist, konnte es eigentlich nur noch bergauf gehen. Skina geht allein und ohne Panik nach draußen und auch wieder rein, lässt sich streicheln und ist ansonsten sehr ruhig. Jetzt steht er jedoch des öfteren an der Tür und möchte raus, ist ja verständlich. Noch macht er keine Anstalten, irgendwelche Ausbruchsversuche zu starten, aber man weiß ja nie. Nun müssen wir wirklich am Leinenproblem arbeiten. Shunka und Wolfskin sind ein tolles Paar, oder?

Am Dienstag hatte Micha frei und war wegen seines neuen Führerscheines den ganzen Vormittag unterwegs. Er rief mich dann an, als er nach Hause kam - mir schwante schon Böses. Unserem Wolfskin gefiel es anscheinend draußen so gut, dass er nicht mehr so lang drin bleiben wollte... Und Micha hatte die Wohnzimmertür hinter ihm zugemacht (was ich sonst nie tue). Das Ergebnis: viele schöne Späne auf dem Boden und eine mit Biss- und Kratzspuren überzogene Tür.  Er hat sich gleich schuldbewusst verkrümelt, als Micha Heim kam.  Nun ja, es gibt wohl schlimmeres.. Ich habe schon von völlig zerfetzten Sofas und in kleine Stücke zerlegte Möbel gehört...

Ansonsten haben wir mit Halsbandtraining begonnen. Schritt für Schritt. Halsband anlegen lassen =

 nach draußen gehen. Mit viel Geduld und Streicheleinheiten klappt es schon recht gut, wenn Wolfskin irgendwo ruhig liegt. Wir werden das jetzt die nächsten 2 Tage mal wiederholen, und dann auf ein Stückchen Leine am Halsband steigern.

13.04.2016  Tag 29

Heute morgen konnte ich Wolfskin wunderbar das Halsband anlegen. Nur ganz kurz auf ihrem Platz gestreichelt, dann mit dem Halsband gestreichelt und dann konnte ich es ihm in aller Ruhe umlegen. Natürlich gings zur Belohnung raus! Trotz dass direkt nebenan Arbeiter die Stromleitungen säuberten und dabei Bäume ausschnitten und mit mehreren Kettensägen hantierten, benahm sich Wolfskin mustergültig. Keinerlei Aufregung, keine Angst vor den doch recht lauten Geräuschen. Super! Auch das wieder-reingehen klappt wunderbar; er springt nach einiger Zeit von alleine die Treppen wieder hoch auf seinen angestammten Platz neben demWohnzimmertisch. Wie ein junger Hirsch, seine Behinderung merkt man ihm nicht im Geringsten an! Ich ging dann auf Arbeit, natürlich mit offener Wohnzimmertür. Ein bisschen mulmig war mir schon, ich malte mir die abenteuerlichsten Sachen aus, auf die ein gelangweilter Hund kommen könnte. Micha war als erstes Zuhause. Er rief mich an, und ich konnte den Schrecken in seiner Stimme hören. Er hatte noch gar nicht richtig die Wohnungstür geöffnet, war Wolfskin wie ein geölter Blitz an ihm vorbeigestürmt und zur Haustür hinaus - natürlich ohne Halsband. Zum Glück halten wir unseren Zaun immer geschlossen, auch unsere Mieter haben wir gnadenlos geimpft. Kaum hatte sich Micha vom ersten Schock erholt, stand der nächste Herzinfarkt vor der Tür: Wolfskin versuchte seinen Kopf und die Pfoten durch den Bauzaun zu stecken! Das hatte er bei mir noch nie ansatzweise versucht, und dementsprechend groß war mein Entsetzen. Ein lautes NEIN! hielt ihn zum Glück von Weitermachen ab. Hilfe - jeden Tag neue Überraschungen, langweilig werden die nächsten Wochen mit Sicherheit nicht!

Als ich dann von der Arbeit kam, ließ sich Wolfskin aber nach kurzer Bedenkzeit das Halsband anlegen und benahm sich auch draußen wieder normal. Keine Fluchtversuche. Wir würden trotzdem noch engmaschigen Drahtzaun besorgen und zusätzlich am Bauzaun anbringen. Nicht auszudenken, wenn Wolfskin in Panik im Zaun hängenbleiben würde!

Und so sieht der Weg nach draußen aus:

14.04.2016   Tag 30

Heute morgen wollte ich mit Skina rausgehen. Also Halsband anlegen und dann in unseren "Garten". Gestern hatte alles wunderbar geklappt - heute morgen ging gar nichts. Skina wollte vom Halsband nichts wissen. Letztendlich habe ich es dann gelassen und Micha hat sie dann später ohne Halsband rausgelassen. Nicht sonderlich konsequent, aber den Schatz durch die Wohnung jagen wäre noch kontraproduktiver geworden. Als ich dann nachmittag von der Arbeit kam konnte ich das Halsband wieder recht leicht anlegen, und raus gings in den Garten. Kein Ausbruchversuch, er hat sich draußen sogar in den Dreck gelegt (wohin sonst?) und ausgeruht. Der Tag hat mir deutlich vor Augen gehalten, dass es immer auch Rückschläge geben wird.

15.04.2016  Tag 31

Schwärzer kann ein Tag nicht sein. Ich bin am Ende mit meinen Nerven, mein Magen revoltiert und ich habe schon keine Tränen mehr. Mein schlimmster Alptraum ist wahr geworden.

Wolfskin ist weg. Fortgelaufen. Ich war wie jeden Morgen mit ihm und Shunka im Gehege vor der Haustür, damit er seine Geschäfte erledigen kann. Nichts unterschied sich zu den Tagen davor. Er schnüffelte herum, betrachtete die Gegend, kusselte mit Shunka. Shunka ging derweil wieder die Treppen hoch, in Erwartung des baldigen Frühstücks. Ich blieb noch einige Minuten mit Skina draußen. Ein Luftzug sorgte dafür, dass die Haustür nicht mehr offen stand und ich dreht mich um, um sie wieder zu öffnen, damit Wolfskin nach oben konnte. Zwei Schritte und zwei Sekunden. Ich hörte ein Geräusch vom Zaun, schnellte herum und sah Skina außerhalb des Zauns in Richtung Nachbar laufen. Nicht panisch flüchtend, sondern ruhig und gemächlich laufend, in seiner für seine drei Beine typisch hoppelnden Art. Völllig entsetzt wurde mir bewusst, was das bedeutete. Wir wissen nicht, wie er aus dem Gehege gekommen ist. Eigentlich kann er nur darüber hinweg gesprungen sein, denn für alles andere hätte er viel mehr als die zwei Sekunden gebraucht, dieich ihm den Rücken zugekehrt hatte. Ich habe Micha angerufen, weinend und schluchzend. Er war mit seinem LKW unterwegs, konnte genauso hilflos wie ich nur sein Entsetzen zum Ausdruck bringen. Shunka war mittlerweile wieder heruntergekommen, und ich ging mit ihr und einer Tüte Würstchen auf die Suche. Skina befand sich gar nicht weit weg; auf dem Feld direkt gegenüber unserer Hauses. Ich schickte Shunka zu ihm. Wenn die Situation nicht so furchtbar gewesen wäre, hätte mir der Anblick das Herz erwärmt: Wolfskin und Shunka tobten ausgelassen über das Feld, übermütig und voller Lebensfreude sah ich Skina seine Freiheit genießen. Ich rief Shunka zu mir heran und Skina folgte ihr. Er nahm Leckerlis aus meiner Hand, ließ sich streicheln. Aber ich wusste, sobald ich ins Halsband greifen würde um ihn festzuhalten, würde er sich heftigst wehren. Also versuchte ich, ihn mit bis zum Haus zu locken. Kurz davor machte er kehrt und lief weiter weg. Er kam dann noch zweimal zurück, folgte meiner Würstchenspur und hielt sich in meiner unmittelbaren Nähe auf. Aber sein Freiheitsdrang behielt die Oberhand. Noch haben wir nicht so feste Bande geschmiedet, dass er freiwillig in sein Gefängnis zurück will. Ich sprang nach oben, um Wurstnachschub zu holen - als ich nach einigen Sekunden wieder unten war, konnte ich Skina nicht mehr sehen. Wie vom Erdboden verschluckt.  Ich schnappte Shunka und lief in alle Richtungen, keine Spur. Ich habe keine Ahnung, was mir alles durch den Kopf ging, welche Gedanken unaufhörlich kreisten. Wolfskin hat Jahre seines Lebens auf der Straße verbracht, bevor er brutal aus dem für ihn zwar gefährlichen und anstrengenden, aber gewohntem Lebenskreis gerissen wurde. Ich wusste ziemlich sicher, dass er sich Autos und Menschen fern halten würde. Noch nie war er in dieser Gegend gewesen, kannte nicht einen einzigen Stein hier. Würde er den Weg zurück finden? Würde sich Wolfskin an regelmässiges Fressen, Streicheleinheiten und ein warmes Plätzchen erinnern?

Bis abends lief ich durch die Gegend, setzte nebenbei übers Handy eine Vermisstenanzeige auf und postete sein Bild auf mehreren Facebook-Seiten, die von Isfjordenern frequentiert werden. Als Micha endlich nach Hause kam, war ich schon nur noch ein Nervenbündel. Er suchte weiter; mittlerweile beteiligen sich auch Leute aus dem Dorf an der Suche. Nichts. Morgens um 8 war Wolfskin das letzte mal gesehen worden; ganz in unseren Nähe auf dem Weg ins Zentrum. Seitdem nichts. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Wenn Skina nicht gesehen werden will, wird ihn keiner zu Gesicht bekommen, davon bin ich überzeugt. Ich hoffe und bete inständig, dass er von alleine zurückfindet. Wir haben Futter rund ums Haus verteilt, alle Türen stehen offen. Ich laufe von einem Fenster zum anderen, die ganze Nacht. Bitte komm nach Hause, Wolfskin!

16./17.4. - Samstag/Sonntag

Wolfskin ist nicht nach Hause gekommen. Ich war die ganze Nacht auf geblieben, stand am Fenster und suchte mit den Augen die Gegend rund ums Haus ab.  Vor meinem geistigen Auge entstanden die schlimmsten Bilder: Wolfskin angefahren im Straßengraben, fürchterliche Schmerzen leidend in einer Fuchsfalle gefangen oder zumindest hungrig und zitternd alleine da draußen, irgendwo. Am Morgen gingen wir wieder auf die Suche. Micha und unser Pferdemädchen Renate zu Pferde, ich mit Kai, meiner Schwiegertochter und vielen anderen freiwilligen aus Isfjorden zu Fuß. Keine Spur. Niemand hatte einen dreibeinigen Hund gesehen. Unsere Fotografin aus dem Ort druckte Handzettel  und Plakate, die wir überall aufhingen und verteilten. Wer unsere Gegend kennt weiß, dass es nahezu unmöglich ist, ein Tier zu finden, wenn man absolut gar keinen Anhaltspunkt hat.  Felder und Wald soweit das Auge reicht - wo soll man da suchen? Erschöpft kamen wir wieder nach Hause, stellten Futterstellen auf und ließen unserer Verzweiflung freien Lauf. Mein Handy klingelte unaufhörlich, eine Nachricht nach der anderen traf ein. Alle wünschten uns Glück, trösteten uns oder fragten nach, ob Wolfskin wieder da sei. Nein, das war er nicht. Der zweite Tag verging, und wir starrten hilflos auf seinen verwaisten Platz.

Auch der Sonntag vormittag verging erfolglos. Bis endlich ein erlösender Anruf kam - zufällig von einer Arbeitskollegin. Sie war sich ganz sicher, Wolfskin vor ein paar Minuten gesehen zu haben! Bei sich auf dem Hof, in einer kleinen Ansiedlung mit nur ein paar Bauernhöfen rund 6 Kilometer von Isfjorden weg. Wir setzten uns sofort ins Auto. Luzia erklärte uns, dass bei ihnen gerade die ersten Lämmer angekommen waren und sie eine Nachgeburt in einem Eimer vor den Stall gestellt hätte. Auch lagen einige Essensreste auf dem Komposthaufen. Sie beobachtete, wie ein Hund den Eimer geleert und sich über den Kompost hergemacht hatte. Entweder war es unser Hund, oder einer der einen deutlichen Schaden an einem seiner Beine hatte, denn der Hund hinkte. Ich war mir ganz sicher, dass es unser Wolfskin war! Er sei den Hang hinterm Haus hinauf gelaufen, dort ist freies Feld und Wald. Wir spazierten auf Gutglück die Wiese hinauf, Shunka im Schlepptau. Rechts von uns, etwa 200 Meter entfernt, gab es einen Graben mit einzelnen Bäumen. Ich bemerkte einen Baumstamm, der mitten im Gehölz zu sehen war. Ich wollte schon wieder wegschauen, als ich so ein komisches Gefühl hatte. Ich habe nichts gesehen außer einen schwarzen, relativ weit entfernten Punkt. Ich fragte Micha, ob er auch den Baumstamm gesehen hätte. Ja, hatte er, ein Baumstumpf eben. Eine Ahnung ließ mich nochmal genau hinsehen - und da bewegte sich der Baumstumpf! Fast unmerklich, aber ich konnte dank meiner gelaserten Adleraugen deutlich erkennen, dass aus dem vermeintlichen Baum zwei spitze Ohren wuchsen. Er war es. Ich fühlte es, ich war mir ganz sicher. Wir setzen uns einfach mitten auf einer kleinen Anhöhe hin und ließen Shunka laufen. Die sah natürlich nichts; als Spürhund versagt unser Mädel ganz jämmerlich. Skina kam ganz langsam näher. Zwei Schritte, dann legte er sich wieder hin. Als er noch rund 50 Meter weit weg seinen Beobachtungsposten bezogen hatte, erkannte ihn Shunka endlich und lief laut bellend auf ihn zu. Damit war das Spiel eröffnet! Sie fegten über das Feld, leckten sich ab und spielten. Micha war ganz langsam zum Auto zurückgegangen, um die Tüte mit Würstchen zu holen. Wolfskin war nur 10 Meter von mir weg - und doch unerreichbar. Mein erster Gedanke war: Er lebt! Er machte keinen gestressten oder ängstlichen Ausdruck, sondern schien seine Freiheit zu genießen. Und trotzdem hatte ich den Eindruck, dass er hin- und hergerissen war - zu mir zu kommen oder Abstand zu halten. Das Bild werde ich nicht vergessen, wie Wolfskin stolz wie sein Namenspate auf der Anhöhe thronte und das Land wie sein Reich beobachtete. Ich muss zugeben, er sah herlich aus...  Ein schönes Fleckchen Erde hatte sich unser Ausreißer da ausgesucht, und mit seiner Fellfarbe verschmolz er fast mit der noch nicht zum Leben erwachten Landschaft.

Micha kam zurück, und trotz Wurst entschied sich Wolfskin dann doch, lieber eigener Wege zu gehen.

Aber jetzt wusste ich wenigstens, dass er gesund und munter war, und wir konnten einen Plan aushecken. Sicher würde Skina an diesen Ort zurückkommen, wo er schon leckere Mahlzeiten vorgefunden hatte. Also richteten wir strategisch günstig einen Futterplatz ein, von dem aus Luzia ihn beobachten konnte. Der Plan sah vor, dass Skina dort regelmäßig Futter bekam, bis sich ein gewisses Zeitschema abzeichnete. Dann kam unsere Tierärztin ins Spiel, die sich mit dem Betäubungsgewehr auf die Lauer legen und unseren Schatz handlungsunfähig schießen sollte.

Skina wurde heute noch mehrere Male ganz in der Nähe gesichtet, immer verhielt er sich unauffällig und mied die Nähe von Mensch und Tier. Das war gut, sehr gut. Ein lieber Nachbar borgte uns noch eine Wildkamera, die wir am Futterplatz installierten. Nun muss unser Plan nur noch aufgehen. Ich schöpfe wieder Hoffnung; vielleicht kann ich ja diese Nacht endlich wieder ein paar Stunden Ruhe finden. Mittlerweile habe ich über 40 Stunden nicht geschlafen und kaum etwas gegessen.

18.04.2016 - Montag

Gleich ganz früh schrieb mir Luzia, dass die Futterstelle unangerührt geblieben war. Wolfskin war also nicht dort gewesen. Das war nicht ganz so nach Plan...

Ich musste auf Arbeit, auch wenn ich nicht wusste, wie ich auch nur eine Stunde kontzentriert würde arbeiten können. Micha hat frei - einer von vielen schicksalhaften Zufällen, die den Tag denkwürdig machen sollten. Schon auf dem Weg zur Arbeit klingelte mein Telefon. Eine Frau aus Isfjorden meldete, dass sie soeben Wolfskin gesehen habe. Auf dem Weg Richting Isfjorden Zentrum. An der Hauptstraße entlang. Herrje... wieso lief Skina jetzt in die ganz andere Richtung, als er eigentlich sollte?! Und so begann eine Art Telefonmarathon - fast minütlich riefen mich Leute an, die Wolfskin gesichtet hatten. Am Außengelände der Schule, in der Nähe des Campingplatzes, am Lager der Zivilverteidigung. Ich schickte Micha jedesmal an die beschriebene Stelle. Aber irgendwie kam er immer zu spät, oder Wolfskin wollte nicht gesehen werden. Ich konnte auf Arbeit keinen klaren Gedanken mehr fassen; meine Arbeitskollegen und Chefs waren zum Glück mehr als verständnisvoll und fieberten sogar mit. Die nächste Sichtung wurde gemeldet - Wolfskin war in der Nähe der Gokart-Bahn aufgetaucht, auf dem Weg in die Berge. Sie hätte vorsichtshalber ihre freilaufenden Enten weggesperrt. Richtig so, wer weiß, wie hungrig Wolfskin war.

Micha fuhr dorthin - und auf einmal stand Skina in seiner ganzen Pracht vor ihm, vielleicht 150 Meter weg auf einem Waldweg.  In der nächsten halben Stunde schaffte er es mit  Shunkas Hilfe und dank Wiener Würstchen, Wolfskin bis zum Auto zu locken. Aber keine Chance, ihn reinzubekommen. Dann passierte  etwas Erstaunliches: Wolfskin blieb eine geschlagene Stunde  neben Micha und Shunka liegen. Entspannt und ruhig. Micha hatte das gleiche Gefühl wie ich am Tag davor: Skina kämpfte mit sich. Er wollte vertrauen, aber seine schlimmen Erfahrungen standen ihm noch im Weg.  Ich sagte zu Micha, dass wir wahrscheinlich so eine Chance nicht wieder bekommen würde. Wolfskin hatte sich in kürzester Zeit über eine so weite Distanz bewegt, dass wir nicht sicher sein konnten, wohin er weiter laufen würde. Ich rief die Tierärztin an und flehte sie an, alles stehen und liegen zu lassen, ihr Gewehr zu laden und sich zur Gokart-Bahn zu bewegen. Das machte sie auch. Ich rief wieder Micha an und sagte, er soll bitte, bitte noch eine Weile durchhalten...

Dann konnte ich nichts mehr tun als abwarten. Entweder auf den erlösenden Anruf, oder die nächste Hiobsbotschaft, dass Wolfskin den Braten gerochen und das Weite gesucht hatte. Ich weiß nicht mehr, wie ich die folgende Stunde überstanden habe, ohne verrückt zu werden. Gesichtsfarbe hatte ich schon lange keine mehr, mein Magen revoltierte und vor Nervosität konnte ich nicht mal mehr einen Stift in der Hand halten.

Dann klingelte mein Handy. Micha ruft an. So sehr ich darauf gewartet hatte - sosehr hatte ich Angst ranzugehen. "Alles gut, ich hab Skina betäubt im Auto liegen." Oh mein Gott!!!!!  Ich brach sofort in Tränen aus, und meine Arbeitskollegin, die genauso mitgezittert hatte, nahm mich in die Arme.  Wir hatten unsere Skina wieder! Eine kurze Strecke war Wolfskin geflüchtet, in den Wald hinein. Aber Micha und die Tierärztin konnten ihm folgen, und als er hinter einer kleinen Hütte auftauchte, stand die Schützin nur 2 Meter entfernt und hatte leichtes Spiel. Nach wenigen Metern Flucht brach Skina dann zusammen. Nicht schön, aber anders hätten wir ihn niemals unbeschadet nach Hause bekommen. Der Alptraum war vorbei. Skina war wieder da, nach knapp 4 Tagen Angst und Verzweiflung, Hoffen und Bangen. Mein Chef schickte mich nach Hause - ich hätte eh nichts gescheites mehr zu Wege gebracht. Da lag unser Ausreiser im Wohnzimmer auf seinem Lieblingsplatz, noch tief schlafend. Ich fiel Micha in die Arme, Tränen der Erleichterung liefen uns beide übers Gesicht. Micha war mein Held des Tages. Wir würden sehen, wie Skina dieses neue Trauma überstanden hatte. Er war extrem viele Kilometer gelaufen; sein Körper würde sicher vollkommen entkräftet sein. Was sein Ausflug mit seinem Geist angerichtet hatte, würden die nächsten Tage zeigen. Wir würden mit Geduld und Liebe für ihn da sein. Er war schon das zweite Mal nicht direkt vor uns geflüchtet und wir hatten beide den Eindruck, dass Wolfskin schon wusste, dass wir es gut mit ihm meinten und er bei uns sicher ist. Er ist wieder da - und das ist momentan alles, was zählt.

19.04.-24.04.20116    Dienstag - Sonntag

Wolfskin hat die ganze Nacht vom Montag zum Dienstag durchgeschlafen. Zwischendurch habe ich ihm Wasser angeboten, dass hat er in einem Zug ausgetrunken. Und weitergeschlafen.

Auch die nächsten Tage vergingen hauptsächlich mit schlafen und ausruhen, nur zwischendrin ein bisschen Fressen. Zum Geschäft-machen gings wieder auf den Balkon, aber das höchstens einmal am Tag, wenn Wolfskin es gar nicht mehr ausgehalten hat. Er hat nun seinen Stammplatz im Wohhnzimmer aufgegeben und sich ins Bad verkrümelt, allerdings nicht in eine Ecke, sondern mitten im Raum. Er muss unwahrscheinliche Muskelschmerzen haben, und natürlich ist Wolfskin nach seinem 4tägigem Abenteuer vollkommen erschöpft. Anscheinend tut die Fußbodenheizung im Bad seinen lädierten Knochen gut ...

Wolfskin hat sich verändert. Wir haben es gleich gemerkt, nachdem er das erste Mal nach der Narkose seine Augen aufgemacht hat. Seine Augen haben in den letzten Tagen nicht ein einziges Mal scheu oder ängstlich ausgesehen; wir können uns ihm problemlos aus allen Richtungen, in aktiver Haltung und mit allem Möglichen in der Hand nähern.  Er genießt die Streicheleinheiten wie nie zuvor und macht nicht die geringsten Anstalten, überhaupt auch nur in die Nähe der Tür zu gehen. Es hat den Anschein, als ob er sich jetzt drinnen sicher und geborgen fühlt...  Wolfskin liegt im Bad, meistens müssen wir auf dem Weg zum Klo sogar über ihn hinwegsteigen. Seine Augen folgen mir ständig, komme ich näher, legt  er sich auf die Seite und fordert so unbewusst zu Zärtlichkeiten auf. Ich habe ihm seine "Waldüberreste" aus dem Fell gezupft, 3 Zecken entfernt - und Wolfskin ließ sich alles gefallen, obwohl es doch sicher hin und wieder ein bisschen geziept hat! Es musste einfach schon ein Gewisses Maß an Vertrauen vorhanden sein, sonst wäre er nicht so entspannt und ruhig. Daniela Hüther, eine ganz tolle Angsthund-Therapeutin aus Deutschland, die mir telefonisch mit vielen Ratschlägen und Tipps hilft, erklärte mir, dass Angsthunde nach einem "Ausflug" oftmals sehr viel ruhiger sind, da sie sich ihrer Angst mit Bewegung Luft gemacht haben. Es ist wie bei Menschen: Aggressionen oder Wut verschwinden am besten, wenn man sie an etwas (leider manchmal auch an jemandem) abreagierten kann. Doch sie sagte auch, dass schon eine vertraute Basis vorhanden gewesen sein muss, sonst wäre er im Leben nicht wieder in unsere Nähe gekommen.

Nun jedenfalls gedenke ich, sein Vertrauen in mich nun weiter zu steigern und auszubauen. Er hat eindeutig gemerkt, dass er bei uns sicher ist, nicht auf anstrengende Futtersuche  gehen muss und ihm unsere Berührungen nicht weh tun - im Gegenteil.  Ich will Wolfskin zeigen, dass meine Nähe für ihn Sicherheit bedeutet, nicht Gefahr und Angst. Um ihm das Ganze noch deutlicher vor Augen zu führen, habe ich die letzten Nächte wieder ein provisorisches Matratzenlager neben ihm auf dem Badezimmerboden aufgebaut und mit ihm dort geschlafen. Nacht für Nacht rutschte ich einige Zentimeter näher an ihn heran, bis ich so nah bei ihm lag, dass ich den Arm ausstrecken und ihn hätte anfassen können. Ich habe dann meine Hand in seine Kopfnähe gelegt, und nach kurzer Zeit schob Wolfskin seine weiche Schnauze in meine Handfläche! Das war so ein tolles Gefühl! Mir tat der Rücken weh vom harten Badezimmerboden (zwei zusammengeschobene Liegestuhlkissen ersetzen eben doch keine Federkernmatraze), aber das war mir in diesem Moment sowas von egal! Diese Vertrautheit mit Wolfskin war einfach nur herrlich - bis meine kleine Josy angetippelt kam und den Großteil meines eh schon mickrigen Schlaflagers einzunehmen gedachte. Ich ließ sie, meine Kleine möchte immer in der Nähe ihrer Mama sein, das würde ihr auch ein Wolfskin nicht streitig machen! 

Im Laufe der Woche hatten wir unser Gehege weiter abgesichert. Zusätzliches, kleinmaschiges Netz und auf den Gittern nach Innen abgewinkelte Überhänge würden ein Darüberspringen nun nicht mehr möglich machen. Wie Alcatraz. Zum Schießen komisch und hässlich, aber der Zweck heiligt die Mittel. Ewig soll das Gefängnis nicht stehen, und zum Glück haben wir sehr verständnisvolle Mieter, die ja jedesmal beim rein- und rausgehen ein Zaunsteil ausheben und wieder an seinen Platz setzen und auch noch eine Kette davorhängen müssen, damit Wolfskin keine Möglichkeit hat, den kleinen Spalt zwischen den beiden Eingangsgittern auseinanderzudrücken.

Mindestens einmal am Tag gibts ein Küsschen!

Auch beim Duschen ist Wolfskin an meiner Seite -

aber ein wahrer Gentleman schaut weg ;-)

Man fühlt sich doch schon sehr beobachtet

beim Toilettenbesuch!

Noch mehr Netz und hohe Abschrägungen- unser Alcatraz ist soweit fertig.

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